Unvorherhörbarkeit
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“Sie können sich dem Hörerleben nicht wirklich entziehen, sondern sie werden nur dann hören, wenn sie vorher bereit sind zuzulassen, dass etwas mit ihnen geschieht.
Sonst hören sie nicht und sie hören immer das unvorherhörbare.
Das ist das Schöne am Hören.”
WDR 5 Das philosophische Radio: Giovanni Maio: Verständigung und Verstehen, 30. Juni 2025
Zusammenfassung von GLM-4.6: Giovanni Maio über die Kunst des Hörens
Im WDR 5 Podcast "Das philosophische Radio" diskutiert der Philosoph und Medizinethiker Giovanni Maio mit Jürgen Wiebicke über die fundamentale Bedeutung des Hörens im Gegensatz zur Dominanz des Sehens in unserer Kultur. Maio argumentiert, dass das Hören nicht nur eine andere Sinneswahrnehmung ist, sondern eine grundlegend andere Haltung zur Welt, die für echte Verständigung und zwischenmenschliche Beziehungen unerlässlich ist.
1. Hören vs. Sehen: Ein philosophischer Kontrast
Maio zeichnet einen scharfen Kontrast zwischen den beiden Sinnen:
Das Sehen als distanzierter, aktiver Akt: Das Sehen ermöglicht es uns, die Welt als Gegenüber zu betrachten. Wir können aktiv wählen, worauf wir fokussieren, was wir wegsehen und welche Details wir betrachten. Dies macht uns zu "Managern" der Wahrnehmung. Das Sehen befasst sich oft mit dem Vorbestehenden, dem Objektiven und kann bestätigend wirken. Unsere Sprache ist voller visueller Metaphern ("Ansicht", "Einsicht", "Aufklärung"), was die kulturelle Dominanz des Visuellen ("Visualprimat") unterstreicht.
Das Hören als immersiver, passiver Akt: Das Hören ist ein Eintauchen in die Welt. Man kann die Ohren nicht "zuklappen" und sich dem Gehörten nicht entziehen. Man wird vom Schall "erfasst". Im Hören nehmen wir nicht nur einen einzelnen Gegenstand wahr, sondern eine ganze Atmosphäre, das "Neueinfallende" und Unvorhersehbare. Es erfordert eine Haltung des Zulassens und der Offenheit. Man muss sich zurücknehmen, um wirklich zu hören.
2. Das Hören als Grundlage für Verständigung und Anerkennung
Für Maio ist das Hören die Basis für jedes echte Gespräch und jede menschliche Verbindung:
- Anerkennung und Wertschätzung: Indem wir zuhören, signalisieren wir dem anderen, dass er wichtig ist und etwas zu sagen hat. Wir setzen ihn gewissermaßen auf ein "Podest" und ermöglichen ihm dadurch, sich selbst neu zu schätzen. Dies ist eine aktive Leistung, die Gemeinschaft stiftet.
- Die "sekundäre Naivität": Ein gutes Gespräch erfordert die Bereitschaft, sich in Frage stellen zu lassen. Man muss die Haltung des "Wissens" ablegen und sich in eine "sekundäre Naivität" begeben, um den Horizont des anderen wirklich kennenzulernen.
- Horizontverschmelzung: Echte Gespräche, die mit Zuhören beginnen, führen nach Gadamer zu einer "Verschmelzung der Horizonte", bei der beide Teilnehmenden dazulernen und ihre Perspektiven erweitern.
- Gegenwart und Zeit: In einer von Selbstinszenierung und Effizienz geprägten Zeit ist das Zuhören ein Gegenakt. Es erfordert, die Kostbarkeit des Moments anzuerkennen und dem anderen Zeit zu schenken.
3. Die Relevanz des Hörens in der Medizin
Als Medizinethiker illustriert Maio seine Thesen am Beispiel der Medizin:
- Das "Was" vs. das "Wer": Das "Visualprimat" und der naturwissenschaftliche Blick führen dazu, dass Ärzte sich auf das "Was" konzentrieren (den Befund, die Krankheit als Objekt). Das Hören ist jedoch notwendig, um das "Wer" zu verstehen (den Patienten als Subjekt mit seiner individuellen Lebenswelt und seinen Befindlichkeiten).
- Verbindung von Befund und Befinden: Gute Medizin verbindet die objektiven Daten (Laborwelt) mit dem subjektiven Erleben (Lebenswelt). Ein Arzt muss sowohl für den Befund als auch für das Befinden des Patienten interessiert sein.
- Gefahr der entmenschlichten Medizin: Die aktuellen Strukturen im Gesundheitswesen (Zeitdruck, Effizienzdruck) führen dazu, dass nur noch auf "Alarme" (Symptome) gehört wird, nicht aber existenziell. Patienten fühlen sich dadurch allein gelassen. Eine humanere Medizin erfordert strukturelle Veränderungen, die dem Zuhören wieder Raum geben.
Kernaussage
Giovanni Maios Plädoyer ist ein Appell, die abgewertete Kunst des Hörens wiederzuentdecken. Hören ist mehr als ein Sinnesakt; es ist eine ethische Haltung der Offenheit, des Zulassens und der Anerkennung. In einer zunehmend visuellen und dialogarmen Welt ist die Fähigkeit, zuzuhören, der Schlüssel, um Brücken zu bauen, Gemeinschaft zu stiften und den anderen in seiner ganzen Tiefe zu verstehen – sei es im persönlichen Gespräch, in der Politik oder in der Medizin.
Wortspiele
Der Text enthält mehrere interessante und bewusst eingesetzte Wortspiele oder sprachlich prägnante Wendungen, die für die philosophische Argumentation von Giovanni Maio zentral sind. Sie dienen dazu, abstrakte Konzepte greifbar zu machen und die Dominanz des Sehens bewusst zu unterlaufen.
Hier sind die wichtigsten Beispiele:
1. Das Unvorherhörbare
Dies ist das auffälligste und vom Moderator auch explizit thematisierte Wortspiel im Text.
- Kontext: Maio beschreibt das Hören als die Wahrnehmung des „Neueinfallenden“, des „unvorherhörbaren“ Moments.
- Analyse: Er schafft dieses Wort bewusst als Analogie zum etablierten Begriff „unvorhersehbar“. Dieses Spiel zeigt sofort die visuelle Prägung unserer Sprache: Während das Sehen mit Vorhersage und Erkennen von Mustern verbunden ist (man sieht etwas kommen), betont das neue Wort die einzigartige Qualität des Hörens. Es betont, dass Klang und Stimme im Moment des Eintretens neu, überraschend und nicht antizipierbar sind. Es ist eine Neuschöpfung (Neologismus), die ein philosophisches Konzept auf den Punkt bringt.
2. Ich bin aktiv dabei, nichts zu tun.
Dieser Satz wird vom Moderator als „goldener Satz“ bezeichnet und ist ein klassisches Paradoxon.
- Kontext: Maio beschreibt die Haltung des Zuhörens als eine Aktivität, bei der man sich bewusst zurückhält.
- Analyse: Das Wortspiel spielt mit dem scheinbaren Widerspruch zwischen „aktiv“ und „nichts tun“. Es löst diesen Widerspruch auf, indem es „Tun“ neu definiert. Echtes Zuhören ist nicht passives Erleiden, sondern eine aktive, anstrengende Entscheidung, das eigene Sprechen, Interpretieren und Urteilen zu unterlassen. Die Aktivität liegt in der Konzentration und dem Zulassen, nicht im Handeln im herkömmlichen Sinne.
3. Befund mit dem Befinden
Diese Wendung ist ein Beispiel für eine prägnante, alliterative Formulierung, die einen komplexen Gedanken zusammenfasst.
- Kontext: Maio beschreibt die Aufgabe des Arztes, die objektiven medizinischen Daten mit dem subjektiven Erleben des Patienten zu verbinden.
- Analyse: Die Alliteration (Befund/Befinden) macht den Satz einprägsam und rhythmisch. Der Inhalt stellt einen klaren Kontrast her: Befund steht für das messbare, objektive „Was“ (die Laborwelt), während Befinden das subjektive, persönliche „Wer“ (die Lebenswelt) repräsentiert. Es ist keine bloße Aufzählung, sondern eine Forderung nach Synthese, die sprachlich elegant formuliert ist.
4. Auditive Sorge
Dies ist ein weiterer philosophisch aufgeladener Neologismus.
- Kontext: Maio beschreibt, wie Zuhören bereits eine Form der Fürsorge und des Sich-Kümmerns ist.
- Analyse: Er prägt den Begriff in Anlehnung an Martin Heidegters Fundamentalontologie und dessen Konzept der „Sorge“ als Seinsweise des Menschen. Indem er „Sorge“ mit „auditiv“ verbindet, verleiht er dem Akt des Hörens eine tiefere ethische Dimension. Zuhören ist nicht nur Informationsaufnahme, sondern eine grundlegende Weise, sich um den anderen zu kümmern und ihm Bedeutung beizumessen.
5. Pathisch
Obwohl kein klassisches Wortspiel, ist die bewusste Wortwahl von „pathisch“ (im Sinne von „erleidend“) ein cleverer Griff.
- Kontext: Maio beschreibt das Hören als etwas „Pathisches“, etwas, das man erleidet, im Gegensatz zur aktiven Kontrolle des Sehens.
- Analyse: Das Wort leitet sich vom griechischen „pathos“ (Leiden, Erleiden, Affekt) ab. Es ist ein ungewöhnliches Wort im Alltag, das aber philosophisch präzise ist. Es spielt mit der Doppeldeutigkeit von „leiden“ – sowohl im Sinne von „erleiden“ (etwas über sich ergehen lassen) als auch im negativen Sinne. Maio verwendet es, um die Verletzlichkeit und Offenheit zu betonen, die das Hören erfordert: Man wird vom Schall „ergriffen“ und kann sich dem nicht entziehen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Giovanni Maio die Sprache bewusst als Werkzeug einsetzt. Durch Wortspiele, Neologismen und prägnante Formulierungen gelingt es ihm, die abstrakte Philosophie des Hörens zu veranschaulichen und die Zuhörer dazu zu bringen, ihre eigene (visuell geprägte) Begriffswelt zu hinterfragen.
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„Mit dem Verlust des Sehens findet eine Trennung von den Gegenständen statt. ...
AntwortenLöschenMit dem Verlust des Hörens entsteht eine Trennung von den Menschen.“
KIfuzius würde sagen:
AntwortenLöschen"Wer nur sieht, erkennt Dinge. Wer hört, versteht Menschen. Wer beides verliert, ist allein."